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Von Menschen und Möwen und von einem armen Hecht - Neun E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Meldung von: - 27.01.2017 10:09 Uhr
Den verantwortlichen Pressekontakt, für den Inhalt der Meldung, finden Sie unter der Meldung bei Pressekontakt.

Von Menschen und Möwen und von einem armen Hecht - Neun E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Um es gleich vorweg zu nehmen: Am schlechtesten hat es der Hecht in dem Hiddensee-Krimi „Das Möwennest“ von C.U. Wiesner getroffen. Denn das arme Tier ist gleich am Anfang des Buches tot und kommt - allerdings wunderbar gewürzt - in den Tiegel. Doch die zum Festessen eingeladenen Nachbarn von der Insel können sich gar nicht so recht an den kulinarischen Spezialitäten freuen. Und das hat einen verständlich-unheimlichen Grund. Aber dazu später.

Ansonsten handeln die neun aktuellen Deals der Woche der EDITION digital, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de acht Tage lang (Freitag, 27.1. 17 - Freitag, 3.2. 17) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind, von Menschen und ihren Schicksalen, sowie zwei Mal von Möwen - einmal in dem bereits erwähnten Hiddensee-Krimi und einmal in einem Sachbuch von Wolf Spillner.

Und jetzt springen wir einfach mal 33 Jahre zurück. Wissen Sie noch, was 1984 passierte? In diesem Jahr, das einem berühmten dystopischen Roman über einen totalitären Überwachungsstaat seinen Namen gab, brachte ein anderer sehr bekannter und sehr erfolgreicher SF-Autor erstmals seinen utopischen Roman „Der Geist des Nasreddin Effendi“ heraus - so heißt der Eulenspiegel des Orients. Autor dieses Buches, das als E-Book bis auf die Rechtschreibung in der Originalfassung von 1984 vorliegt, ist der besser unter seinem Pseudonym Alexander Kröger bekannte Schriftsteller Dr. Helmut Routschek. Und darum geht es in der raffinierten Mischung aus Märchen, Geschichte und SF, die Leser jeden Alters in Atem halten kann: Ein Mann erwacht in der Gegenwart auf dem Basar in Chiwa. Er erinnert sich, dass er wegen seiner Liebe zu einer Frau des Chans enthauptet werden sollte. Er glaubt Nasreddin Chodscha zu sein. Da er geistig zunächst in seiner mittelalterlichen Welt verhaftet ist, stößt er auf Unverständliches und Ungeheures, auf Bekanntes und schrecklich Unbekanntes und stürzt so von einem spannenden Abenteuer ins andere. Der jungen Wissenschaftlerin Anora gelingt ein unerhörtes Experiment mit menschlichen Gehirnen, in dessen Folge spannende Verwicklungen für Aufregung und für eine ungewöhnliche Liebe sorgen. Anora folgt Nasreddins Weg, auf dem er seinem Image treu bleibt.

Und so liest sich „Nasreddins Geist“, der damals als Band 186 der Reihe „Spannend erzählt“ des Verlags Neues Leben Berlin erschienen war - zumindest ein Auszug davon: „Als nun Nasreddin den Kopf drehte, die Arme noch immer weit geöffnet, erstarrte er in dieser Pose. Was, zum Scheitan, bedeutete das schon wieder? Aufgereiht wie die Kamelreiter des Bayazid, standen da im Schatten des Festungswalls langgestreckte Häuser, glänzend und bunt bemalt, mit Reihen großer Fenster an den Seiten. Und unten hatten sie wulstige Räder. Eine Weile starrte er auf das abermals unfassliche. Dann ließ er die Arme sinken. Langsam kehrte Gleichmut in sein Denken. Er wandte das Gesicht erneut der Ebene zu. In der Ferne stieg aus einem Kischlak Rauch. Allah ist groß, seine Wege sind unerforschlich. Wenn es ihm also eingefallen ist, dass die Menschen, seine Kinder, Häuser auf Rädern bauen sollen, dann bauen sie eben. Aber warum habe ich sie unlängst nicht gesehen? Na, sie haben Räder! Also werden sie daher gekommen sein, wo ich nicht war. Die Erde und das Reich Timurs sind unermesslich! Nasreddin fasste den Strick des Esels fester; zögernd, aber stetig trat er an die Kolosse heran, klopfte mit dem Knöchel an die Außenhaut. Aus Lehm waren sie nicht. Es hörte sich an wie der eherne Gong des Muezzins. Welche Verschwendung. Und außerdem roch es in der Nähe dieser Merkwürdigkeiten nicht gut. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte in das Innere eines solchen Hauses. Eigenartig, dachte er. Wo sie wohl schlafen mögen, und eine Feuerstelle besitzen sie auch nicht. Ob auf den wulstigen Thronen ein angenehmes Sitzen sei, wusste man auch nicht. Nasreddin runzelte unentschlossen die Stirn, dann setzte er sich auf den harten Boden, mit dem Rücken gegen eins der dicken Räder gelehnt, faltete das Tuch auseinander und sortierte die kleinen Scheine und unbekannten Münzen. Einen Augenblick dachte er daran, diesen unbrauchbaren Plunder wegzuwerfen, aber irgendetwas sagte ihm, dass das töricht wäre. Schließlich hatte sich der Handel auf dem Basar zugetragen wie auf jedem Basar. Er hatte etwas gegeben - auch wenn er sich nicht erinnern konnte, dass ihm das jemals gehört haben sollte -, und er hatte dafür etwas bekommen. Diese Scheine und Münzen, als seien es Goldstücke. Also verstaute er die Dinge in seinem Gewand, das sich, nun bei näherer Betrachtung, als äußerst neu herausstellte und aussah, als sei er wohlhabend.“

Im selben Jahr 1984 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher ebenfalls im Verlag Neues Leben Berlin „Susis sechs Männer“: Am Nachmittag hat sie ihr Abschlusszeugnis bekommen. Am Abend fordert Jiri, ihr Freund, dass jetzt sofort geheiratet wird. Aber Susi wünscht sich einen Mann, den sie anerkennt und der sie auch anerkennt. Sie hat ihre Erfahrungen und sie weiß nicht, ob Jiri der Richtige ist. Spannend schildern die beiden Autoren Susis sechs Liebesbeziehungen sowie die Ehe ihrer Eltern. Wie soll sich Susi entscheiden?

Aber machen wir zunächst überhaupt erst einmal die Bekanntschaft mit Susi und einer ihrer besonderen Fähigkeiten: „Ihr war die Ehre zuteil geworden, die Dankesworte für die Klasse zu sprechen. Die Jungen hatten gegrinst, als sie ihr das antrugen. Sie mache das sowieso am besten und bei ihrem einzigartigen Abschluss, auch der Gleichberechtigung wegen, Mädchen in der Melioration wären eben Sonderartikel, das würde sie doch verstehen. Natürlich verstand Susi, dass die Jungen sich drücken wollten. Sie wusste, dass sie reden konnte, und hatte sich sicher gefühlt. Nicht einmal aufschreiben wollte sie sich etwas. Sie hasste das Ablesen von Reden und Diskussionsbeiträgen. Jiri hatte aber gesagt, Susi, das ist ein feierlicher Augenblick, da kriegt man leicht feuchte Hände und einen Kloß im Hals, schreib dir was auf, woran du dich festhalten kannst, besser ist besser.

Sie hatte nachgegeben, und Jiris Rat hatte sich als kluger Rat erwiesen. Bei ihren weichen Knien und den verstopften Ohren wäre sie womöglich ins Stottern gekommen oder hätte ganz und gar den Faden verloren, so aber konnte sie sich an ihr Blatt Papier klammern. Sie las, hob und senkte die Stimme und fühlte sich wie eine sprechende Puppe. Nach außen musste sie jedoch völlig souverän gewirkt haben. Jedenfalls hatten es nachher alle bestätigt, sogar die Jungen. Der Vater war stolz, und die Mutter hatte ihr wie in früheren Tagen wortlos den Arm gestreichelt, um sie zu beruhigen. Dass die Mutter hinter der Souveränität das Zittern gemerkt hatte, stellte eine seit langem nicht so deutlich gespürte Vertrautheit her, und das machte froh und ließ die Aufregung vergehen. Susi Sommer, du hast es geschafft, hatte sie sich gesagt und alle drei, Vater, Mutter und Jiri, auf einmal umarmt. Der Höhepunkt des Abends aber war, als der Vater sein Weinglas erhoben und gesagt hatte, na, dann prost, Frau Kollegin. Er meinte es ernst, obwohl er doch vorher nie ganz ernst genommen hatte, dass sie wie er Ingenieur in der Melioration werden wollte.

Beim Abschlussball hatten sie viel getanzt. Keinen Moment hatte Jiri sie allein fortgelassen. Ihr war es recht. Frei und glücklich hatte sie sich gefühlt, leicht wie eine Feder, und die Welt drehte sich nur um sie beide. Gegen Mitternacht hatte sie gehen wollen. Sie wollte mit Jiri allein sein. Gleich, hatte er gesagt und Wein eingegossen. Viele waren schon fort, auch ihre und Jiris Eltern. Wir können nicht als erste, hatte Jiri gesagt, denn aus der Klasse war noch niemand gegangen. Einige tanzten. Die andern saßen und hielten sich am Glas fest, mehr oder weniger weggetreten. Eine Gruppe Unermüdlicher, Lehrausbilder, Lehrer, ein paar vom Kombinat, bestellten Runde um Runde. Vorher hatte Susi darüber hinweggesehen. Nun ekelte sie das an. Sie hatte Jiri gemustert. Noch hielt er sich gerade. Er wusste, dass sie das Trinken nicht mochte. Uns vermisst keiner, hatte sie ihm zugeflüstert und sich an ihn geschmiegt, komm!

Sehr langsam waren sie auf dem Dammweg der Stadt entgegengegangen. Pausen gab es, immer längere Pausen. Als ein Auto sie mit seinen Scheinwerfern aus der Dunkelheit riss, wollte Jiri den Dammweg verlassen. Die Wiesen dufteten nach Heu. Nicht hier, hatte sie gesagt, und sie waren schnell und ohne Zögern zu ihm nach Hause gegangen. Susi wohnte am andern Ende der Stadt. Nicht das war der Grund, warum sie zu ihm gingen. Sie gingen immer zu Jiri. Ihr kleiner Bruder schlief mit in ihrem Zimmer. Sie hatte gewollt, dass er bei ihr schlief. Er ging schon in den Kindergarten. Manchmal, wenn sie in der nächtlichen Stille seine Atemzüge vernahm, stand sie auf und beugte sich über sein Bett und streichelte ihn. Natürlich hätte der kleine Thomas bei den Eltern schlafen können, aber Susi hatte gesagt, bei ihr sei doch Platz, und vielleicht war es den Eltern ganz lieb. Als sie das erste Mal bei Jiri geblieben war, hatte die Mutter noch einmal die Rede darauf gebracht. Susi wollte nichts ändern. Der Vater hatte das missverstanden, lange bliebe sie wohl sowieso nicht mehr bei ihnen. Ihr hatte das einen Stich versetzt, denn sie konnte und sie wollte es sich nicht vorstellen, woanders zu Hause zu sein. Zu Hause war sie bei den Eltern und bei ihrem kleinen Bruder.“

1978 erschien im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig erstmals die Novelle „Der Soldat und die Frau“ von Max Walter Schulz: Tief in der Steppe, mitten im Zweiten Weltkrieg, begibt sich eine außergewöhnliche Geschichte: Der Soldat Röder, der als Gefangener mit einem Kommando die gefallenen Soldaten begräbt, wird von dieser Gruppe getrennt, und er findet sich wieder allein in der Nähe eines Dorfes, nunmehr als Gefangener von Frauen, die beginnen, ihre Häuser und Höfe wieder aufzubauen. Was erwartet ihn, was kann er erwarten? Er erwartet Hass und erfährt zunächst Hass. Aber im Verlauf des Geschehens verwandelt sich der Hass, und auch er selbst gewinnt neue Erfahrungen, und er wird nicht nur überleben, sondern eigentlich erst wirklich zu leben beginnen. Und so spiegelt sich im Außergewöhnlichen das historisch Bedeutsame, das sich wandelnde Verhältnis zwischen sowjetischen und deutschen Menschen. In ungewöhnlicher Dichte, spannungsgeladen, wird diese Geschichte erzählt, die den Autor wiederum als reifen Erzähler ausweist:

„In der Nacht vor dem letzten Arbeitstag des Kommandos verschlechterte sich das Wetter. Ein scharfer eisiger Wind kam auf. Der pferdeverständige Gefangene kroch aus dem Zelt. Er hatte den Blecheimer klirren hören. Das Pferd stand wie immer unter der langen, schräg hochstehenden Pritsche des Karrens, mit dem lockeren Zügel an die Achse gebunden. Es stieß mit der Schnauze an den Blecheimer, der an der Achse hing. In dem Eimer wurden Tee und Graupen gekocht, aus ihm wurde das Pferd getränkt, nachts fraß der Gaul daraus sein tägliches Maß Hafer. Je weniger ein kluges Pferd vorgeschüttet bekommt, um so langsamer frisst es. Wenn das Pferd nachts mit dem Blecheimer lärmte, dann hatte es seinen Grund. Der Pferdeverständige kroch dann immer aus dem Zelt. Der Starschina hustete jedes Mal kurz, wenn ein Gefangener nachts aus dem Zelt musste. Sie sollten wissen, dass er im Bilde war. Der Starschina hätte im Schlaf eine Mücke furzen hören. Und der Gaul ersetzte eine ganze Wachkompanie. Wenn der Blecheimer klapperte und der Pferdeverständige aus dem Zelt kroch, hustete der Starschina nicht. Es trieben sich hungrige, verwilderte Hunde herum, Riesenköter. Sie könnten das Pferd reißen. Wolfsblut ist in jedem Hund. Es schläft nur. Wenn es erwacht, ist so ein Hund schlimmer als der Wolf. Der Wachsoldat, so großmäulig er tut, vor den Wolfshunden hat er eine Heidenangst. Doch auch Wolfshunde scheuen das Feuer. Deshalb hat sich der Wachsoldat selber den Befehl gegeben, nachts aller zwei Stunden aufzustehen und frische Knüppel ins Biwakfeuer zu schieben. Die Tage gehen einem in die Knochen, die Nächte sind lang, und der Schlacks schläft den Schlaf der Jugend. Trotzdem holt er sich aller zwei Stunden heraus, unterhält das Feuer, zählt bei der Gelegenheit jedes Mal die Gefangenen. So viel Zucht hätte man dem schreihälsigen Milchbart gar nicht zugetraut.“

Wiederum drei Jahrzehnte später als die Novelle ihres Mannes veröffentlichte Elisabeth Schulz-Semrau „Elchritter“ - ein Fast-Märchen aus vergangenen Tagen: Die zwölfjährige Anne ist ziemlich einsam in dem Ostseebad, in dem die Eltern jeden Sommer ein Ferienhaus mieten. Als die Jungen des Fischerdorfes sie ärgern, findet sie einen edlen Ritter, der sie beschützt und geduldig zuhört. Worüber sie mit den Eltern nicht sprechen kann, weil sie ja doch keine Zeit und kein Gespür für sie haben, das ist mit dem nur wenige Jahre älteren Markus möglich. Nur drei Tage Genesungsurlaub hat der junge Soldat im Samland, dann muss er zurück an die Ostfront.

Und so begegnet das Mädchen Anne zum ersten Mal ihrem Ritter und Retter: „Das Mädchen rannte wieder. Die Strandpromenade des Ostseebades Cranz lag weit zurück, und die Strandkörbe verloren sich nach und nach auf diesem Teil des grauen Gelb. Die Jungen gewannen an feuchtem Sandstreifen, und das Mädchen fühlte sich immer stärker von kopflosem Schrecken umhüllt. Da war ja nichts mehr. Nur Wasser, grau und unendlich. Nur Strand, gelb und unendlich. Mit dem Pochding in der Brust schlug die Angst Bilder hoch: Der eine der schrecklichen Bengels würde das eine Bein packen, ob das linke oder das rechte, wusste das Mädchen nicht; es wusste ja im Normalfalle nie gleich, wo links und rechts ist. Der andere würde den dazugehörenden Arm fassen und sie mit einem Ruck in das graue Gewoge werfen, das wie ein unduldsames Ungeheuer vor sich hinmurrte. Oder. Sie kamen mit ihren Mündern näher. Hungrige, große Jungenmünder. Das Mädchen schrie, lief. Die Verfolgerfüße platschten hinter ihm wie Flundern, die, günstig feilgeboten, auf einen Verkaufstisch geworfen werden. Wie nah denn waren sie? Da stieß sie gegen etwas. Einen Menschen? Klammerte sich ohne Überlegung an diese Gestalt. Nur nicht hinter sich blicken. War gar nicht überrascht, als dann eine Stimme kam. „Nun aber Schluss, ihr Strolche“, grollte die Stimme, „was seid denn ihr für welche? Und auf ein Mädchen! Wisst ihr es denn nicht, einem Mädchen muss man Schutz verschaffen!“ Die zwei Jungen, ungefähr vierzehnjährig, der eine hellschopfig, heute einziger Sonnenfleck am ergrauten Strand, der andere dunkelhaarig, rot und verschwitzt, hatten sich in wohlberechneter Entfernung breitbeinig vor dem Schutzengel des Mädchens postiert, mauserten, aber nur mit halber Lautstärke, was denn ihn das angehe und - Mädchen ja, aber nicht eine solche Zicke. Und was denn das sei: Einem Mädchen Schutz verschaffen? Dabei äfften sie den etwas singenden Tonfall des Mannes nach.

Das Mädchen hatte nun, da es sich beschützt spürte, den Menschen losgelassen, stand erschrocken über plötzliches Hilfesuchen bei einem völlig Fremden einige Schritte hinter ihm, musterte ihn aufmerksam. Ist ja ein richtiger Mann, dachte es, na, vielleicht auch nur beinahe ein richtiger, aber die Bengels hatten jedenfalls Respekt, das sah man, konnten ihr also nichts mehr tun! Das musste man ausnutzen! Sie machte eine halbe Drehung und warf den Jungen, so gut es ihre verheulte Stimmung zuließ, ein verächtliches „Phö“ über die Schulter, stakste dann, ein wenig unsicher noch, aber schon wieder mit der eigenen Haltung, die vorhin arg ins Schlinkern gekommen war, zu der Stelle hinüber, wo das Land der Urlauber zu Ende war und das der Fischer begann. Soweit hatten die sie gejagt. Gerade gut! Hier war ihr liebster Platz. Da hatten sie ihr nur einen Gefallen getan.“

Und wo wir gerade am Meer waren, da wollen wir den bereits erwähnten Hiddensee-Krimi „Das Möwennest“ einschieben, der eigentlich erst als Fernsehfilm produziert wurde. 1976 hatte Regisseur Manfred Mosblech auf der Insel Hiddensee unter anderem mit hervorragenden Schauspielern des Deutschen Theaters Berlin nach dem Drehbuch von C. U. Wiesner den Kriminalfilm „Kollision“ gedreht, der im folgenden Jahre in der beliebten Reihe „Polizeiruf 110“ im Fernsehen der DDR lief. Bald danach blieben die erwarteten Wiederholungen aus, weil - wie man dem Autor kundtat - das Filmmaterial zu heftige Farbschwankungen aufweise. Als er nach 1990 immer mal wieder gesendet wurde, schienen die Farben noch recht ansehnlich. Also daran kann es damals nicht gelegen haben.

Die Anregung zu dem Stoff hatte Wiesner durch seinen Schulfreund Dr. Werner H. bekommen, der als Biochemiker an der Krebsforschung in Berlin-Buch arbeitete. Er war dabei auf einen bemerkenswerten Seitenweg gestoßen, ein Verfahren, das der DDR, wäre es zu Ende entwickelt worden, wissenschaftlichen Ruhm und obendrein Devisen eingebracht hätte. Indessen untersagte der Genosse Professor dem parteilosen Wissenschaftler jegliche Weiterarbeit an dem Projekt. Den Ruhm konnten später amerikanische Kollegen einheimsen, die dem Thema parallel auf der Spur gewesen waren.

Jahre später konnte Wiesner im Verlag Neues Berlin den Stoff im Kriminalroman „Das Möwennest“ aufgreifen. Zwar gab es zuvor im Lektorat harte Debatten um einige ideologisch nicht genehme Passagen, aber es ist eine üble Legende, dass man sich als Autor allen Zwängen beugen musste. Obwohl sie nicht namentlich genannt wird, ist dieses Buch auch eine Liebeserklärung an die Insel Hiddensee, auf der Wiesner viele Sommer verbracht hat.

Und noch etwas zu diesem Buch: 1983 hatte der Hamburger Rowohlt Verlag in seiner Reihe rororothriller eine Lizenzausgabe des „Möwennestes“ herausgebracht. Der Herausgeber Robert K. Flesch antwortete auf die Frage, warum seine Wahl unter den vielen Titeln der DIE-Reihe ausgerechnet auf dieses Buch gefallen sei. „An Ihrem Buch“, gab er dem Autor zur Antwort, „hat mir gefallen, dass Sie darin liebevoll und dennoch kritisch von einem Land erzählen, das wir viel zu wenig kennen.“

Und jetzt kommt wieder der Hecht ins Spiel - und ein weiterer Toter, diesmal allerdings ein Mensch. Aber lesen Sie selbst: „Der Hecht wog reichlich sieben Pfund, und da fehlten ihm schon der Kopf, die Flossen, der Schwanz und die Eingeweide. Ich wusch ihn unter fließendem Wasser und trocknete ihn mit einem Tuch ab. Nachdem ich das Fleisch mit einem scharfen Sägemesser in Portionsstücke zertrennt hatte, beträufelte ich es mit Zitronensaft und rieb es mit Salz ein. Über der Propangasflamme zerließ ich Schweineschmalz in einem Tiegel, schmorte darin ein Gemengsel aus Zwiebelringen, dünnen Klarapfelscheiben, Möhrenstiften und Tomatenvierteln, füllte mit saurer Sahne auf, würzte mit Pfeffer, edelsüßem Paprika, Thymian und gestoßenem Koriander. Dann gab ich den Hecht - zu meinem Kummer blieben drei Stücke übrig - in den Tiegel und ließ ihn bei geschlossenem Deckel gar dünsten.

Inzwischen wiegte ich Petersilie, Dill und Sellerieblätter. Die Kartoffeln auf der zweiten Flamme begannen zu kochen, als ich mit dem Messer Butterflöckchen auf dem Fisch verteilte und fünf gequirlte Eigelb darüber goss. Ich öffnete eine Flasche Lindenblättrigen und überlegte mir, wie ich das soeben komponierte Gericht wohl nennen sollte, wenn ich meine Nachbarn bewirtete. Ich musste sie ja bewirten, mir blieb nichts weiter übrig. Was sollte ich allein mit so viel Ostseehecht anfangen? Seit vielen Jahren leide ich unter einem mir selber unerklärlichen Zwang: An keinem Fischgeschäft kann ich vorübergehen, ohne solche Käufe zu tätigen, die Helga in den ersten Jahren zu unsachlichem Gezeter, später nur noch zu einem hilflosen Seufzen veranlassten. Diesmal war Helga nicht dabei, und auf der Insel packt mich stets eine besondere Maßlosigkeit. Ich rechtfertige sie damit, dass hier der Fisch viel frischer und daher wohlschmeckender ist als der im Binnenland.

Am Hafen von Ahlhöft - das ist der Hauptort der Insel - hatte ich außer besagtem Hecht vier dicke Räucherflundern, ein halbes Pfund Sprotten (für den ersten Hunger während der Hechtzubereitung) und zwei Kilo Salzheringe erstanden, die ich in den nächsten Tagen zu marinieren gedachte. Überdies ließ ich die Fischverkäuferin wissen, dass ich ihr gern ein paar Steinbutte abnehmen würde, falls welche angelandet werden sollten.

Hinter der Düne, schräg über Preckwinkels Schilfdach, kroch nach heißen Tages Anstrengung die Sonne mit rot verschwitztem Gesicht in ihr graubarchentes Wolkenbett. Ich trat vor die Tür meines Häuschens und läutete die Schiffsglocke. Es ist keine echte. Helga hat sie in einem Leipziger Kunstgewerbeladen erstanden, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass sich das blanke Messingding mit Patina bedeckt. Die Nachbarn kennen das Signal, das nichts anderes bedeutet als: Marcus Bockmühl leidet wieder mal am Fischüberfluss, und zu trinken hat er auch genug im Kühlschrank. Vorsichtshalber, damit ich nicht allein prassen muss, kündige ich so ein Ereignis schon immer am zeitigen Nachmittag an.

Als erster kam Willi Kuhle herüber. Er sah ungewöhnlich ernst aus. „Du, Mark“, sagte er, „am Binsenort hamse ’n Toten jefunden.“ „Ertrunken?“, fragte ich. Er zuckte die Schultern. „Ick weeß nich. Irjendwat muss da faul sein. Der Scheriff“ - er meinte unseren ABV, den Leutnant Stresow,- „hat mit zwei Polizeihelfern die Stelle abjesperrt.“ Der Hecht, gedünstet, nach Bornholmer Art, so hatte ich ihn getauft, fand an diesem Abend nicht den begeisterten Zuspruch, den er verdient hätte. Die Nachbarn redeten nur über den unheimlichen Fund und ergingen sich in Mutmaßungen. „Natürlich war es ein Badeunfall“, verkündete mit Bestimmtheit Leopold Hottenrodt, seines Zeichens Schauspieler und Regisseur an den Städtischen Bühnen Mackenwalde, „was denn sonst? Jedes Jahr verlangt die Insel ihr Opfer - leider!“ „Aber der Binsenort“, wandte Margit Kuhle ein, „liegt auf der Boddenseite. Dort badet doch kaum jemand.“

„Na und?“, entgegnete Leopold. „Vor sechs Jahren haben sie dort auch eine Wasserleiche gefunden - nach Wochen.“

Bleiben wir noch ein bisschen am Wasser. Ohne Wasser kein Angeln. Und um das Angeln geht es in dem erstmals 1971 als Band 81 der beliebten Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ erschienenen Büchlein „Freitags beim Angeln“ von Ulrich Völkel: Jeden Freitag nach der Schule steht Klaus am Fluss und angelt. Eigentlich geht es ihm gar nicht so sehr darum, Fische zu fangen. Er braucht diese eine Stunde, um sich zu erholen. Vor allem von der stressigen Mathematik, die nun wirklich nicht sein Lieblingsschulfach ist. Zufällig macht er die Bekanntschaft mit einem jungen Mann, der ihm eine Weile zuschaut und dann behauptet: Angeln ist langweilig! Worauf Klaus prompt erwidert: Mathematik ist langweilig! Ohne zu wissen, dass er das zu einem Mathematiker sagt. Aus der zufälligen Begegnung wird eine regelmäßige, wobei einer dem anderen beweisen will, was tatsächlich langweilig ist. Am Ende der Geschichte haben beide voneinander gelernt und am Hobby des anderen Freude gefunden. Angeln ist nicht langweilig. Und Mathematik muss es auch nicht sein.

Aber bevor wir uns darüber streiten, was langweiliger ist, folgen wir jetzt einmal den Träumen von Klaus - beim Angeln am Freitag: „Viele Fische gab es hier nicht. Die Strömung war zu stark. Doch von dieser Stelle aus ließ sich weit flussab und flussauf schauen. Die Brücke, die Häuser, die Ruine der alten Burg, das neue Hochhaus - all das konnte er von dieser Stelle aus sehen. Und die Stadt, die hochstieg zu beiden Seiten des Tales, blickte zum Fluss hinab, ihrem wettgereisten Freund, der unterwegs war zu noch größeren Weiten.

Wenn ich jetzt, dachte Klaus, wenn ich jetzt ein Rindenboot hätte, und es bliebe nirgendwo hängen, ob es bis Afrika schwämme? Hier ließ sich träumen! Die alte Brücke verwandelte sich in die berühmte Towerbrücke von London. Die Häuser der Stadt wurden zu den Terrassen von Neapel, die alte Burg ein sagenumwobenes Schloss, das neue Hochhaus mit seinen zwölf Stockwerken ein stolzes Leningrader Gebäude. In diesen Vorstellungen lebte Klaus jeden Freitag nach der Schule.

Wenn er nach Hause kam, stellte er die Schultasche in die Ecke, nahm seine Angel hervor und den kleinen Eimer, sammelte hinter dem Haus Regenwürmer in eine Schachtel und lief hinunter zum Fluss. Und während Klaus hier stand, vergaß er die zwei Stunden Mathematik, die Rechenaufgaben, die ihm viel zu schwer waren, das Gekicher der Mädchen, seine Hilflosigkeit beim Rechnen an der Tafel - seinen ganzen Kummer mit dieser Mathematik vergaß er und wurde wieder froh in den Träumen von der Welt.

Mit dem Strom, der zum Meer hin floss, trieben seine Gedanken fort. Manchmal biss ein Fisch an. Den zog er heraus und legte ihn zu den anderen, die schon im Eimer schwammen. Aber eigentlich ging er nicht an den Fluss, um zu angeln. Er angelte, um am Fluss zu sein. Schularbeiten machte er abends. Seit Mutter diesen Kursus besuchte, hatte Klaus viel Zeit freitags, denn sie kam spät nach Hause. Vater aber war Kapitän auf einem 10 000-Tonnen-Frachter und befuhr die Meere der Welt.“

Ebenfalls ein Heranwachsender spielt die Hauptrolle in dem erstmals 1975 im Kinderbuchverlag Berlin erschienenen historischen Roman „Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen“ von Heinz-Jürgen Zierke - allerdings wie sich schon unschwer aus dem Buchtitel erkennen lässt zu einer ganz anderen früheren Zeit, etwa anderthalb Jahrhunderte früher: 1813. Der Befreiungskrieg gegen Napoleon bricht aus. Noch stehen die französischen Truppen in Deutschland. Willem Beggerow, ein pommerscher Bauernjunge, will seinen Vater rächen, der von streifenden „Musjes“ erschossen wurde. Der Vater gibt ihm eine Tabakdose, die er von Scharnhorst erhalten hatte. Der General würde Willem eine Uniform und ein Gewehr geben. Doch der Gutsherr, Herr von Kerckow, will ihn nicht ziehen lassen. Willem flieht, schlägt einen Franzosen nieder, wird gefangen und soll erschossen werden. Das Mädchen Tine, dem Willem immer wieder begegnen wird, hilft ihm weiter. Mit einem Kosakentrupp erreicht er die preußischen Truppen, als eben eine schwere Schlacht tobt, in der Scharnhorst verwundet wird. Er kann Willem nicht helfen, übergibt ihn aber dem Generalmajor Gneisenau. Dem gefällt der kesse Junge, aber er gibt ihm keine Uniform und kein Gewehr; erst soll Willem lernen. Doch da kommt der Herr von Kerckow, der nun wieder seine alte Offiziersuniform trägt, ins Hauptquartier und will Willem, den Sohn seines Leibeigenen, als sein Eigentum zurückhaben. Doch der will seinen Vater mit der Waffe in der Hand rächen ...

„Krieg überzog Städte und Dörfer, wieder Krieg gegen die Franzosen, die seit sieben Jahren das Land besetzt hielten. Im letzten Winter, so hatte der Herr von Kerckow gesagt, hätten die Russen dem Franzosenkaiser heimgeleuchtet und ständen nun schon auf preußischem Boden. Da hätte der König den Zaren brüderlich umarmt und im Süden des Landes, unweit der böhmischen Grenze, seine Armee gesammelt. Aus allen Provinzen zogen junge Männer aus, um sie zu stärken. Ob die Regimenter auch Kinder nahmen? Ach was, er war vierzehn und lang aufgeschossen, wenn er sich reckte und geradehielt, konnte man ihn fast für siebzehn halten. Die Franzosen saßen in den Festungen, und ihre Streiftrupps nahmen den Bauern Korn und Vieh. Herr von Kerckow hatte, bevor er nach Hohenflieth davonfuhr, auf dem Familiengut eine flammende Rede gehalten, von der Not des Vaterlandes gesprochen, von dem glühenden Willen des Königs, das welsche Joch abzuschütteln, und er hatte den Bauern befohlen, das Gut zu hüten, als wäre es ihr eigenes. Sie hatten hurra geschrien und geschworen, mit ihrem Leben für Herrn von Kerckow und den König einzustehen. Mit ihrem Leben! Vater hatte den Schwur gehalten. Die scharfen Halme kratzten und stachen. Willem warf sich herum, wühlte sich tiefer ein. Da spürte er Körner zwischen den Fingern, volle Ähren. Hatte der Besitzer der Scheune unter dem tauben Stroh gutes Korn versteckt? Wo gab es im Frühjahr ungedroschenes Getreide in den Dörfern? Er rieb die Ähren zwischen den Händen, blies Spreu und AcheIn fort und warf sich die Körner in den Mund. Sie sättigten nicht, aber er schlief darüber ein.

Gegen Mittag sah er zwischen den hügligen Feldern die weißen Häuschen des Dorfes Rosenow. Der schiefe Holzturm duckte sich ängstlich an das steile Ziegeldach der Feldsteinkirche. Nun wusste Willem: nur noch knapp zwei Stunden. Die zerkauten Körner hatten ihn nicht satt gemacht. Ob er eine Bäuerin um ein Stück Brot bat? Er stieg ab, hob ein glattes Steinchen auf vom Wegrand und lutschte darauf herum, um seinen Hunger zu betäuben. Dann umritt er das Dorf auf dem Triftweg, der hinter den Gehöften entlangführte. Man konnte nie wissen, ob nicht Franzosen herumstreiften; im freien Felde konnte er leichter entwischen.

Aber das Kollern und Kneifen im Bauch hörte nicht auf. Der Wind wehte den Duft von gekochten Erbsen herüber. Ein Huhn gackerte. Willem schloss die Augen, sah einen ganzen Berg gekochter Eier vor sich, brauchte nur zuzugreifen. Wenn er wenigstens ein rohes gehabt·hätte! Er mochte das glibbrige Zeug nicht, aber jetzt ... Schweine grunzten. Willem hielt sich die Ohren zu. Vor seinen Augen tanzten roter Schinken, zartweißer Speck und goldgelbes Brot. Sein Magen zog sich zusammen. Er konnte sich kaum noch im Sattel halten.

Auch das Pferd brauchte Ruhe. Zwar hatte es sich in der Scheune satt fressen können, aber in dem tauben Stroh steckte nicht Saft noch Kraft. Jetzt ließ es erschöpft den Kopf hängen. Wenn Willem es mit einem leichten Schlag aufmunterte, fiel es nach einem kurzen Trab wieder in einen müden Schritt. Das letzte Gehöft lag breit und behäbig wohl hundert Schritt abseits und kehrte nicht in der landesüblichen Art den Giebel, sondern die Frontseite der Straße zu. Dort würden wohl ein Teller Suppe und ein Knust Brot, vielleicht sogar eine Scheibe Speck übrig sein. Er lenkte das Tier auf das Gestrüpp zu, das sich am Rande eines ausgetrockneten Baches hinzog. Mannstief hatte sich das Wasser einst in den Lehmboden gewühlt und ein sicheres, bei gutem Wetter trockenes Versteck geschaffen. Das dichte Gesträuch, aus dessen Zweigen eben das erste Frühlingsgrün brach, verbarg das Pferd vor feindlichen Blicken.

Die Bäuerin stand breitbeinig vor dem Herd und stocherte in der Glut. Die auflodernde Flamme beleuchtete ein dürres Hahnengesicht, das auf einem faltigen Hals über einem fülligen Leib saß. Als Willem eintrat, drehte sie sich schwerfällig um, den Schürhaken in der Hand. Im Kessel dampfte Kohlsuppe. Willems Nase krauste sich. Gierig sog er den würzigen Geruch ein. Fast wurde ihm schwindlig. Er blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich gegen den Türpfosten.“

Zum Schluss dieses Newsletters sind zwei Bücher des Fotografen und Schriftstellers Wolf Spillner im Angebot. Hier zunächst der Hinweis auf die erstmals 1988 im Kinderbuchverlag Berlin erschienene und natürlich mit wunderbaren Fotos von Wolf Spillner versehene Geschichte „Im Walde wohnt der schwarze Storch“. Sie ist für Kinder ab vier Jahren geeignet: Anna kennt sich im Wald aus, denn ihr Vater ist Förster. Ihr Vater hat sie oft auf seine Jagdkanzel in der Nähe des Weihers mitgenommen. Dorthin kommen die Wildschweine. Als sie ihrem Vater die vergessenen Kiefernpflanzen nachbringen will, steigt sie noch schnell neugierig auf die Kanzel hinauf. Plötzlich entdeckt sie ein großes Nest auf einem Baum. Da ist ja auch ein großer Vogel, der rasch davonfliegt. Es ist ein Märchenvogel. Gibt es Störche, die schwarz sind, oder bunt und mit roter Brille um die Augen?, fragt sie aufgeregt ihren Vater? Niemand außer den Eltern darf von ihrem großen Geheimnis wissen. Noch nie haben die seltenen Schwarzstörche in ihrem Wald gebrütet und sie sollen doch im nächsten Jahr wiederkommen.

Begleiten wir das kleine Mädchen einen Moment: „Vorsichtig späht Anna aus den Schlitzen der Jagdkanzel nach draußen. Vielleicht kommt der große Vogel zurück? Warten hat sie vom Vater gelernt, wenn sie mit ihm das Wild beobachten durfte. Unter ihr blühen die bunten Blumen, neben ihr singen die Amseln, und sie hört die Spechte im Wald trommeln. Niemand kann sie sehen. Es gefällt ihr, so im Baum zu sitzen. Auf einmal klingt ein seltsamer Ton durch den Wald: „Hiii -hiüüüüü!“ Dann rauschen große Flügel, und auf dem Nest vor Anna landet ein mächtiger Vogel. Er faltet seine Schwingen zusammen.

Anna kann es gar nicht glauben: Da steht ein Märchenvogel! Er funkelt und schillert. Sein Schnabel und seine Beine scheinen zu brennen, so flammend ist ihr Rot! Ebenso rot sind seine Augen gerandet, als trüge er eine leuchtende Brille. Wie ein Storch sieht der Vogel aus und doch auch ganz anders! Störche kennt Anna gut. Sie haben ihr Nest auf der Scheune hinter der Schule. Sie sind weiß und schwarz, und sie können laut klappern. Vielleicht ist dieser Vogel ein ganz besonderer Storch, überlegt Anna. Der Vater wird es wohl wissen. Als Förster muss er die Vögel in seinem Wald kennen. Aber zunächst will Anna diesen Vogel genau beobachten! Der Vogel putzt sich. Dann gähnt er, und Anna muss auch gähnen, so weit reißt er den Schnabel auf. Danach schließt er die dunklen Augen. Als er endlich wieder aufwacht, stochert er mit dem Schnabel im Nest zu seinen Füßen. Es ist sorgsam mit trockenem Gras ausgelegt. Schließlich hebt er die großen Schwingen und fliegt davon.“

Auch das ein Jahr später und ebenfalls erstmals im Kinderbuchverlag erschienene Wolf-Spillner-Buch „Zwischen Alpen und Eismeer. Begegnungen mit Tieren“ ist wieder mit wunderschönen Fotos des Autors ausgestattet. Über sein Buch schreibt Wolf Spillner selber Folgendes: „Seit jenem regennassen Herbsttag, an dem ich als 13-Jähriger die Lachmöwe in den Harzbergen fand, wollte ich wissen, wie Vögel und andere Tiere in ihrer Umwelt leben. Dazu nutzte ich immer wieder meine Freizeit. Um ihnen nahe zu sein, verbarg ich mich unter der Tarnkappe eines Versteckzeltes auf Bäumen und im Sumpf. Mit dem Auge der Kamera habe ich über viele Jahre versucht, ihr Verhalten in fotografischen Bildern auch für andere sichtbar zu machen. Manchmal ist es gelungen. Dafür bin ich gewandert, geklettert und weit gefahren, habe geschwitzt und sehr viel mehr noch gefroren. In den Stunden der Beobachtungen, die zu Wochen, Monaten und Jahren wurden, fand ich ein paar Körnchen an neuem Wissen. So führte die kindliche Neugier und die Freude an eigenen Entdeckungen von der toten Lachmöwe am Hang auf manchem Umweg zu meinem ersten Buch vom „Wald der großen Vögel“. Darin beschrieb ich, was mir nach dreijähriger Beobachtung bei Graureihern, Mäusebussard und Habicht aufgefallen war. Andere Bücher folgten, und den Büchern folgten Einladungen, auch in anderen Ländern Tiere zu beobachten und zu fotografieren. Auge in Auge mit den frei lebenden Tieren zu sein, von denen manche bedroht und gefährdet sind, wurde so zu einem Teil meiner Arbeit. Und schließlich kam ich zu jenen Vögeln im hohen Norden, von denen ich als Junge geträumt hatte. Ich traf auch andere Tiere, von denen ich damals noch nichts wusste. Von diesen Begegnungen will ich hier berichten.“

Hier ein Teil aus seinem Bericht über eine kleine graue Möwe - und darüber, wo der Schreibtisch von Wolf Spillner steht: „Mein Arbeitstisch steht am Fenster. Das ist ein großer Vorteil. Ich sehe viel Schönes. Bisweilen kann das ein Nachteil für die Arbeit sein. Von der Schreibmaschine kann ich über die Gartenwiese und über Felder und Viehweiden hinweg, hinter Kopfpappeln und Hecken aus Schlehdorn, das Wasser und die Schilfwälder vom See beobachten. Der See ist ein reiches Naturschutzgebiet in Mecklenburg. Sobald ich das Fenster öffne, bringt mir mein starkes Fernrohr Einzelheiten von dort zum Greifen nahe. Es ist sehr verlockend, durch das Fernrohr zu äugen!

Im späten September warte ich von Tag zu Tag auf die Scharen der Bless- und Saatgänse, die aus dem Norden zu uns kommen. Ein paar Tausend fallen am Abend keifend und kakelnd auf dem Wasser ein. Im Winter achte ich auf die Bussarde, die Kolkraben und Seeadler. Ihnen habe ich einen Luderplatz auf der Viehkoppel am Seeufer angelegt. Da streiten sie sich um ein Schwein, das ich dorthin geschleppt habe. Im Sommer sehe ich die Fischadler über dem Wasser kreisen. Im Sturzflug stoßen sie nach Schleien und Karauschen. Dann leuchten zwischen den Schilfwäldern die silbernen Hälse der Graureiher über dem Flachwasser, und der Wind trägt mir die Flötenrufe von Brachvögeln und Wasserläufern durchs offene Fenster an den Schreibplatz. Manchmal ist es wirklich schwer, an der Schreibmaschine sitzen zu bleiben!

Aufregend, richtig aufregend ist das Frühjahr. An unseren flachen Sumpfsee kehren so viele Vögel aus dem Süden zurück. Sie sind hier zu Hause. Erst kommen die Graugänse, ihnen folgen verschiedene Entenarten, und bald danach vernehme ich das Quieken und Brüllen der Rothalstaucher und das Lärmen der Lachmöwen, die ihre Brutkolonien gründen. Über dem noch wintergelben Schilf gaukeln jauchzend die Rohrweihen. Dazu klingen die ersten gespenstischen Töne der Rotbauchunken aus dem Wasser vor dem Moorwald, während wir im Dorf den ersten Kuckucksruf erhoffen. Das Storchenpaar hat dann schon sein Nest auf dem hohen Dreibock bezogen und klappert laut über Gärten und Felder. In dieser Zeit warte ich Jahr um Jahr auf die „lütt grise Mew“. Mehr als sonst sehe ich aus dem Fenster, suche mit dem Fernglas die Uferkanten ab, und so oft wie nur möglich bin ich am See, um ihre Rückkehr nicht zu versäumen. Lütt grise Mew, mit dieser Bezeichnung kann nichts anfangen, wer kein Plattdeutsch versteht. Kleine graue Möwe also. Es ist ein schöner Name. Er sagt viel und führt nicht so in die Irre wie der richtige Name des Vogels, Trauerseeschwalbe. Mit Schwalben nämlich hat der amselgroße Vogel außer dem gegabelten Schwanz gar nichts gemein. Mit Möwen aber ist die Trauerseeschwalbe ebenso verwandt wie die beiden anderen europäischen dunklen Seeschwalben, die Weißbart- und die Weißflügelseeschwalbe. Sie allerdings ziehen Südeuropa als Heimat vor und kommen nur selten und niemals zur Brut in unsere Breiten. Die Trauerseeschwalbe ist eine Sumpfseeschwalbe. Sie baut ihre kunstlosen Nester auf treibenden Pflanzenteppichen über dem Flachwasser, nistet auf Rohrstoppeln und Schlammbänken, auf kleinen Pflanzenkaupen. Und stets finden sich mehrere Paare nahe beieinander zum Nisten ein. Sie sind Koloniebrüter wie ihre anderen Möwenverwandten. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts waren Trauerseeschwalben zwar keine häufigen, aber noch keine seltenen Vögel in Mitteleuropa. Jetzt zählen sie in den Industrieländern zu den arg gefährdeten Arten der Sumpf- und Wasservögel. Die meisten ihrer ehemaligen Brutvorkommen sind erloschen. Durch menschliche Besiedlung, durch Industrie und intensiv betriebene Landwirtschaft gingen den Vögeln die Lebensräume verloren. Nur in Naturschutzgebieten sind größere Kolonien verschont geblieben. Unser See zwischen den Feldern und Dörfern in Mecklenburg ist eine solche Ausnahme. Jahr für Jahr bietet er rund fünfzig Paaren eine sichere Brutheimat. Damit wurde er weit über die Grenzen unseres Landes bekannt.“

Und jetzt haben Sie genug gehört von Menschen und Möwen, von Nasreddin und Napoleon, von Angeln und Mathematik. Und fahren Sie unbedingt einmal nach Hiddensee. Es lohnt sich auf jeden Fall. Aus literarischen und aus landschaftlichen und aus noch ganz anderen Gründen.

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